Das macht man nicht!
Jeder vor 1990 geborene kennt diesen Satz, oder?
Eltern, Großeltern und andere Erzieher nutzten diesen gerne, um uns Dinge zu verbieten, die so unendlich viel Spaß gemacht „hätten“.
Wochenend und Sonnenschein
Letztes Wochenende genoss ich bei tropischen Temperaturen das Dasein an einem idyllischen Allgäuer Badesee mit allem was dazu gehört: Grüne Hügel, Kühe mit herrlichen Glockengeläut, einem blauen Himmel und kühlem Wasser. Der Eiswagen bimmelte um Aufmerksamkeit für seine köstlichen Kreationen, Kinder spielten vergnügt – ach, das Leben ist schön!
Während meines träge, entspannten Auf-den-See-Schauens kam eine Erscheinung in mein Blickfeld, die mich tatsächlich an meiner visuellen Wahrnehmung zweifeln ließ (ich bin leicht kurzsichtig).
Ich „traue“ meinen Augen nicht
Da stand ein Mann, mittleren Alters, mit komplett entblößtem Unterkörper außerhalb einer deutlich sichtbaren Umkleidekabine, neben dem Kinderbereich.
Höchst irritiert blickte ich mich um, ob es irgendwo in der Nähe des Mannes, insbesondere von Seiten der Eltern der Kinder, eine Reaktion gab.
Fehlanzeige.
Kein sichtbares Handeln.
Innerhalb von Millisekunden sprang ich auf, um den Mann zurechtzuweisen!!
Leider nur in meiner Vorstellung…
Tatsächlich lieferten sich Irritation und gedankliche Empörung in mir ein nervöses Match, das ich so von mir nicht kenne.
Bin ich die Einzige, die diese „Erscheinung“ wahrnimmt? Bin ich zu sensibel? Oder zu konservativ? Ist das wirklich „so“ schlimm? Was passiert, wenn ich diesen Menschen öffentlich konfrontiere? Muss das nicht die Badeaufsicht machen? Wo ist eigentlich die Badeaufsicht? usw.usw.
Als Mensch mit ausgeprägtem Gerechtigkeitsempfinden handle ich in der Regel sehr schnell, so dass mir das Ganze auch am Folgetag noch nachging: Warum nur habe ich gezögert für ein mir WERTvolles Verhalten öffentlich einzustehen?
Nun könnten wir an dieser Stelle eine Diskussion zu Mut, Verantwortung, Normen und Werte oder Veränderungen in unserer Gesellschaft führen – doch darum geht es mir an dieser Stelle nicht.
„Bin ich normal?“
Seit einigen Monaten erlebe ich in der Begegnung mit Führungsverantwortlichen zunehmend zwei, für mich, „neue“ Phänomene.
Zum einen wird mir in Beratungssituationen häufig eine individuell-erlebte Situation geschildert, an welche die immer gleiche Frage anknüpft: „Sagen Sie mir bitte, ob ich (noch) richtig ticke.“ Das „richtig ticken“ bezieht sich hier auf ein subjektives Erleben und Empfinden mit zugehöriger, objektiver Beurteilung. Die Fragen hinter der Frage lauten: Bin ich normal, wenn ich als Einziger so empfinde? Bzw. was ist normal? Kann ich mir und meinem Empfinden trauen?
Zum anderen erlebe ich in Beratungsmandaten von Unternehmen bzw. deren Teams, die in komplexer Unordnung und Unzufriedenheit sind, häufig, dass klare Maßstäbe für erwartetes Verhalten unbekannt, d.h. nicht kommuniziert sind oder gänzlich fehlen. Dort wo diese bekannt sind, aber nicht eingehalten werden, fehlt wiederum deutliches Feedback und gegebenenfalls gerechte Sanktionierung.
Immer häufiger werden Normen nicht mehr klar definiert oder eine Verschiebung derselben geduldet – eine stillschweigende Akzeptanz. In juristischen Fachkreisen spricht man hier von ‚konkludentem Handeln‘[1]. Man entfernt sich immer weiter von der „eigentlichen“ Vorgabe und schafft damit „neue“ Normen (=Normverschiebung), die teils bizarre Formen annehmen können im Vergleich zur ursprünglichen Idee.
Ein erstaunliches Phänomen
Der Moment, wo über diese Dynamik ein Bewusstsein entsteht, kommt einem Paradigmen- oder tiefgreifenden Strukturwechsel gleich!
Wenn Führungsverantwortliche beginnen ihre Erwartungen (wieder) klar zu kommunizieren, Teams miteinander um gute Normen ringen, diese festlegen und Kontrolle derselben als hilfreich verstanden wird, entsteht sehr schnell Ordnung und Zufriedenheit.
Die Wiederentdeckung des Gewissens
Ich glaube, dass wir als Personen mit Führungsverantwortung mehr denn je Mut brauchen unsere innerste, erste Empfindung „was man tut“ und „was man nicht tut“ wahrzunehmen und dieser wieder zu trauen. Es ist unsere Aufgabe mit unseren Mitarbeitern auf einer wertschätzenden Beziehungsgrundlage klare ordnungsgebende Maßstäbe zu schaffen und darauf zu achten, dass diese eingehalten werden. Wir definieren dadurch Grenzen, die wiederum Räume bilden für Entwicklung. Zum Schutz und Wohle aller!
Ich wünsche mir, das nächste Mal wenn ich einen Menschen in der Öffentlichkeit unbekleidet treffe, dass ich meinem ersten Empfinden traue und den Mut habe, ohne Zögern laut und deutlich zu sagen: „DAS MACHT MAN NICHT!“ (SR)
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[1] „Der Begriff “konkludent” stammt vom lateinischen Wort „concludere“, was so viel wie „einschließen“, „abschließen“ oder „folgern“ bedeutet. Im juristischen Kontext bezeichnet “konkludent” ein Verhalten, das aufgrund seiner Umstände und ohne ausdrückliche Erklärung als Willenserklärung verstanden werden kann und rechtlich wirksam ist.“
Unter https://jurawelt.com/rechtslexikon/k/konkludent-bedeutung-anwendung-und-beispiele-im-recht/ zuletzt abgerufen 18.06.2025
Foto: Aaron Burden unter www.unsplash.com Stand: 18.06.2025